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EXPOSICIÓN

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DOCUMENTACIÓN

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PUBLICACIÓN

Junge Frau vom November 1917

Alexander Kluge

 

 

 

 

 

 

»Meine Zeit du /

 

Sinnlos lächelnd schaust du, leidend /

 

Schwach und grausam du zurück.«

 

Ossip Mandelstam

 

 

So lange die Zeiten vorrevolutionär waren, in Verstecken Rußlands, in Hotels im Ausland, waren Frauen in den REDAKTIONEN UND KONSPIRATIONEN hoch angesehen. Etwas von diesem Elan beflügelte Irina Swerdlow, die Stenographie beherrschte und im Smolny im Herbst 1917 die Diktate entgegennahm. Danach wurde sie mit dem übrigen Personal nach Moskau verfrachtet. Nach dem Tod Lenins auf eine Archivstelle versetzt, lebte sie, mißachtet als revolutionäre Kraft, bis 1937, und danach war sie froh, sich tarnen zu können. Unwichtigkeit überlebt.

 

Auf Momente hatte sie aber in jenen Tagen von 1917 die Erfahrung gemacht (auch von 1905 hatte sie sich solche Momentaufnahmen erzählen lassen), daß ein neuartiges Tausch- oder Transportmittel menschlicher Energien (ja »Mittel « war der falsche Ausdruck, das Elementarteilchen war »Ziel«), nämlich das UNAUSGESPROCHENE EINVERSTÄNDNIS, außergewöhnliche Arbeitskraft mobilisieren konnte. Und zwar deutlich mehr, als mit Geld zu bezahlen war. Das Problem, ein Gemeinwesen auf diese neue »Gravitation« zu gründen, lag nicht in der Stärke solcher »politischen Physik« sondern in der Frage der Aufbewahrung dieses »Kraftfeldes«. Nichts von dem BLITZ GEGENSEITIGER HILFE war ein Vierteljahr später noch konvertierbar.5 Bei dieser katastrophalen Bilanz blieb es. Ein Gemeinwesen war »gedächtnislos« nicht zu begründen. Das archivische Erinnerungsvermögen vermochte den »Funken der Solidarität « zu registrieren, anschließend aber nicht wiederzubeleben. So war das Elementarteilchen dieser Physik, das Irina als Zeitzeugin auf unwissenschaftliche Weise beobachtet hatte, nicht dokumentierbar.

 

Die Archive des Lebens, die der Geophysik, liegen in der Erdkruste verborgen. Das war Irina bekannt. Sie zeugen vom Leben auf diesem Blauen Planeten, aber sie erzeugen es nicht. So nützte es Irina nichts, daß sie der Tochter ihre Erfahrung (die Erfahrung sehr kurzer Momente, die nur verständlich im Kontext waren) mitzuteilen suchte. Ein hoher, zeitlich unabkömmlicher Funktionär hatte Irina geschwängert, wollte von seiner Tat später nichts mehr wissen.

 

Zwischen Tochter und Mutter viel Transfer persönlicher Sympathie, wenig Übertragung von Fakten. Wie soll Irina eine Situation, die im Dämmerlicht von St. Petersburg im Jahr 1917 stattfand (und mit der Aufnahme von Stenogrammen verknüpft war, also Druck von Fingern und Hand auf ein Schreibwerkzeug im Gespür, ein »revolutionärer« Rhythmus), inWorten ihrer Tochter mitteilen, die jene Dämmerstunde nicht kennt und auch die Stenografie nicht beherrscht? Jetzt tritt noch die Enkelin Natascha hinzu. Es wäre wichtig, wenigstens ihr über die »politisch-physikalischen Elemente«, die Irina entdeckt zu haben glaubte, zu berichten. Die Enkelin hört nicht zu, wenn die Sprache darauf kommt. Irina, alt geworden, von niemandem befragt, wäre in steter Rückerinnerung immer noch bereit, allerlei zu vollbringen, was sie für Geld oder auf Anweisung ihrer Eltern nie tun würde. An Umzügen der Veteranen nimmt sie nicht teil.

 

5. Lange Zeit hielt sie dies, aufgrund eines textlichen Mißverständnisses, für den Begriff des MEHRWERTS bei Karl Marx. Gibt es einen SOZIALISTISCHEN MEHRWERT?