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REVISTA

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CONVERSACIÓN

Erkenntnis durch Montage. Ein Gespräch mit Georges Didi-Huberman

Pedro G. Romero

 

 

 

Wenn das Bild die Realität berührt: Unter diesem Motto wurde ich eingeladen, in Madrid Georges Didi-Huberman zu interviewen. Es ist ein Gespräch, das stattfinden sollte. Vor einigen Monaten teilte mir Georges Didi-Huberman mit, dass er während der Karwoche nach Sevilla kommen würde, natürlich um Bilder zu sehen.[i] Wir sind nun schon einige von Flamenco durchdrungene Jahre befreundet, Jahre, in denen wir solche Gespräche immer wieder geführt haben. Letztendlich musste er seine Reise nach Sevilla verschieben. Wir befinden uns in Madrid, im letzten Stock des Círculo de Bellas Artes, und die visuelle Landschaft – der Tageshimmel über Madrid scheint dem allgemeinen Madrid-Bild zu widersprechen, das die vergangenen Dekaden geprägt hat: abgeschaltete Neonreklamen und hochnäsige, klassische Göttinnen ohne Kinder – ist eine andere: verklemmter, protestantischer, wenn man so sagen darf. Unser letztes Gespräch ließ das Wort „Mosaik“ in seiner doppelten Bedeutung im Raum stehen: auf der einen Seite das Monolithische, das Kompakte, die Ordnung und das Gesetz, auf der anderen Seite das Fragmentarische, das Zerstückelte, die Tausende von Mosaiksteinen, die hier und dort zum Beispiel unser Gespräch prägen.

 

 

 

Pedro G. Romero: Du möchtest das Gespräch von zwei Polen her aufrollen: Zum einen sprichst Du von Roland Barthes und seiner Definition der Bedeutung des Bildes und der Fotografie als etwas, das da ist, das das Reale präsentiert, das unmittelbares Zeugnis davon ablegt. Zum anderen sprichst Du von der Diskreditierung der Fotografie durch das Spektakel, von dem Misstrauen, das Guy Debord – und Jean Baudrillard auf eine erschreckende, noch viel rhetorischere Art und Weise – dem Bild entgegenbringt. Das sind zwei widerstreitende Auffassungen, und ich würde gerne wissen, ob Dein Vorschlag, Bilder zu lesen, einen Zwischenweg sucht, einen Weg des Konsenses, der die Positionen einander annähert; oder ob Du, im Gegenteil, versuchst, mit beiden Ansätzen gleichzeitig zu arbeiten, mit dem Paradox und Widerspruch, beiden Diskursen zu entsprechen.

 

 

Georges Didi-Huberman: In der Tat setze ich an einer polemischen Situation an. Meiner Meinung nach geht es dabei jedoch nicht um Barthes versus Baudrillard, denn man findet bei Barthes selbst bereits den Ursprung dieser widersprüchlichen Situation. Das heißt, bei Barthes gibt es gleichermaßen den Aspekt einer Art Ontologie der Fotografie – die Fotografie wäre der Ort, der die Wahrheit des Seins in Form eines Phantoms in sich aufnimmt – und den Barthes der Rhetorik. Diese doppelte Positionierung, die kritisch – denn wenn man etwas eine Rhetorik nennt, ist man kritisch – und zugleich ontologisch ist – denn wenn man etwas ontologisch nennt, impliziert das ein gewisses Vertrauen in das Bild –, dieser doppelte Widerspruch ist schon bei Walter Benjamin zu finden, wie mir scheint. Und das nicht, weil Benjamin in einem Artikel über die Fotografie gesagt hätte, dass die Aura verschwindet, dass er sie nicht sucht, denn er sucht ja die Aura, er sucht, was er den Sprung der Authentizität nennt, er sucht, was er Ursprung nennt. Ich will damit nicht sagen, dass es bei Benjamin eine Ontologie des Bildes gäbe, was ich sagen möchte, ist, dass es bei Benjamin eine gewisse Art des Vertrauens in die Beziehung zwischen Bild und Wirklichkeit gibt. Aber davon abgesehen findet man bei Benjamin die ganze Kritik des Bildes ­– und dessen, wie es eingesetzt wird.

 

Diese beiden Aspekte findet man vielleicht bei allen großen Bildkommentatoren. Wenn jemand wie Baudrillard bis zum Äußersten geht und jegliche Verbindung zwischen Bild und Realem im Namen des Simulakrums ablehnt, geht er zu weit. Das ist eine Haltung, die ich nicht teile: diesen extremen Zynismus, zu sagen, weil es ein Foto ist, ist es unecht.

 

Im Fall von Debord ist es komplizierter, weil er all das kritisiert; aber er könnte seine Arbeit nicht machen, ohne seinen eigenen Bilderatlas zu erstellen. Das wäre unmöglich. Folglich nutzt er das Bild, er verrückt das Bild.

 

Heißt das unter diesen Umständen, dass ich versuche, einen Konsens zu finden, einen Mittelweg? Nein, das glaube ich absolut nicht. Ich denke schlicht, dass man das tun muss, was ich dialektisieren nennen würde, was nicht heißen soll, den Mittelweg zu finden, sondern, dass es entsetzliche Bilder gibt, die man vehement kritisieren muss, dass aber nicht alle Bilder so sind. Und dass man – was gerade heutzutage, wo es so viele Bilder gibt, sehr wichtig ist – die Bilder suchen muss, die uns zu denken helfen. Absolut dasselbe kann man auch über die Worte sagen. Mit den Worten passiert dasselbe. Im Grunde genommen benutzen Joseph Goebbels und Paul Celan dieselben Worte. Eigentlich stahl, entstellte und deutete Goebbels viele wunderbare Worte der deutschen Sprache um. Wir müssen nur wissen, in welchem Fall wir uns bei Celan und in welchem bei Goebbels befinden.

 

 

P.G.R.: Als Werkzeug der Bildanalyse dient dir dabei die Psychoanalyse des Bildes. Ein aus meiner Sicht äußerst fruchtbarer Ansatz, bei dem Sigmund Freud und auch Jacques Lacan in Erscheinung treten. Bei Lacan gibt es ebenfalls diese Ambivalenz, dieses doppelte Spiel zwischen dem, was mal rhetorisch und mal Terror ist. Das Reale gilt als das Schlechte, wobei dieser Diskurs oftmals kritisiert und als pure Rhetorik zurückgewiesen wurde. In diesem Sinne hast du davon gesprochen, dass das Misstrauen gegenüber den Worten auch das Misstrauen gegenüber der Psychoanalyse, das Misstrauen gegenüber Freud, das Misstrauen gegenüber Lacan und das Misstrauen gegenüber der wissenschaftlichen Gemeinschaft der Philosophie ist, die sich auf diese bezieht. An welchem Punkt ergibt sich für Dich aus all dieser Rhetorik das Potential, über Wahrheit oder Ursprung zu sprechen? Bis zu welchem Punkt kann »das Schlechteste« aus dem Diskurs der Psychoanalyse in etwas Positives umgewandelt werden, also in ein nützliches Werkzeug, um Bilder zu lesen?

 

 

G. D.-H.: Wenn das Misstrauen in pure Ablehnung umschlägt, ist das eine paranoide Position. Und deshalb gibt es, aus meiner Sicht, in der Debatte über das Bild, die ich in Frankreich mit einigen lacanianischen und neo-lacanianischen Theoretikern führen konnte, einen Prozess, der vom allgemeinen Misstrauen bis zur ontologischen Ablehnung reicht. Es ist eine Art von paranoidem Motiv. Jedes Mal, wenn dieses Misstrauen, das zur Ablehnung führt, aufkommt, rührt es daher, weil man zu viel von dieser »simplen« Sache verlangt. Wenn man der Psychoanalyse oder dem Bild misstraut, dann deswegen, weil man zu viel von der Psychoanalyse oder dem Bild erwartet. Man darf nicht zu viel verlangen, es reichen die Fragmente, die kleinen Momente. Man kann sagen, dass das Bild ein Operateur der Manipulation ist, und das stimmt sicher, wenn wir von einem Zeichen ohne Manipulation träumen, aber dieses Zeichen existiert nicht.

 

Was meine Anwendung der Psychoanalyse – in aller Kürze gesagt – anbelangt, so handelt es sich um einen kritischen Gebrauch und nicht um einen klinischen. Eines der wichtigsten Begriffe in meiner Arbeit ist der Begriff des »Symptoms«, was aber nicht bedeutet, dass ich versuche herauszufinden, was das »Symptom von« ist. Ich sage nicht, dass die Gesellschaft eigentlich schizophren oder hysterisch ist. Das, was ich mit »Symptom« meine, und ebenso bei meiner Anwendung der Psychoanalyse, ist, dass ich eigentlich »Symptome« suche … Du sprachst von der Fähigkeit zur Wahrheit. Was ich damit meine, ist, dass man diese Fähigkeit zur Wahrheit verzeitlichen muss, das heißt, man muss verstehen, dass sie nur in sehr kurzen Momenten auftritt. Wie Benjamin sagt: Sie ist ein Aufblitzen, ein momentanes Aufblitzen, das nur einen Augenblick dauert. Und das ist es, was mich interessiert. Ich habe gerade einen Text über das Bild als Schmetterling geschrieben. Der Schmetterling interessiert mich, weil wenn Du die Flügel des Schmetterlings wirklich sehen willst, musst Du ihn zuerst töten und ihn danach in eine Vitrine legen. Wenn er einmal tot ist, und nur dann, kannst Du ihn Dir in Ruhe anschauen. Aber wenn Du sein Leben erhalten willst – was schlussendlich interessanter ist, denn es ist Bewegung, Vergnügen –, wenn Du also das Leben erhalten willst, wirst Du die Flügel nur flüchtig sehen können, eine ganz kurze Zeit, einen Augenaufschlag lang. Das ist das Bild. Das Bild ist ein Schmetterling, etwas, das lebt und das uns seine Fähigkeit zur Wahrheit nur in einem Aufblitzen zeigt.

 

 

P.G.R.: Das Bild, ich verstehe. Es gibt eine Betrachtung von Giorgio Agamben bezüglich des Bildes, die mir sehr passend erscheint. Er behauptet, dass Aby Warburgs Arbeit nicht den Bildern sondern den Gesten galt, und verurteilt die gesamte Ikonologie aufs Schärfste: Edgar Wind, Erwin Panofsky, sogar Ernst Gombrich, weil sie die Arbeit von Warburg in gewisser Weise verfälscht hätten. Sie hätten sie auf bloße Zeichen, Indizien, Ikonen reduziert, wo es doch bei Warburgs Ansatz um Beziehungen ging, eine Arbeit an den Gesten, Momenten – Dein Schmetterling.

 

 

G. D-H.: Ich glaube, der Gegensatz besteht tatsächlich zwischen der Bilder-Geste, dem Bild als Geste – das ist Warburg, eine Anthropologie des lebendigen Bildes – und einer verarmten Ikonologie, die eigentlich nur darauf abzielt, in den Bildern Zeichen statt Gesten zu sehen. Deshalb ist für mich das »Symptom« so wichtig. Denn das »Symptom« ist zugleich ein semiotischer Begriff, er spricht vom Signifikat, aber auch Körper. Und wir haben hier das, was eine Geste ist: eine Bewegung des Körpers, die eine gewisse Fähigkeit zur Bedeutung oder zum Ausdruck besitzt. Deshalb ist das, was sich zwischen der Welt der Zeichen und der Welt des Körpers ereignet, das, was uns eigentlich interessiert. Das ist ein Bild. Wenn sich die Ikonografen lediglich für Bilder als Embleme einer Idee interessieren, befinden wir uns auf der Ebene des Begriffs und es bleibt völlig abstrakt. Dann interessiert es uns nicht. Nun ja, es interessiert uns schon, sofern es sich auf diese selbe Anthropologie bezieht.

 

 

P.G.R.: Ich würde gerne tiefer in die Genealogie Deiner Arbeit eintauchen, in die Bedeutung der Bildarchive, in die Art und Weise, wie in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas, Walter Benjamins Passagen-Werk oder den Documents von Georges Bataille Bilder zusammengetragen werden. Und – wenn wir von Michel Foucault sprechen – wie verhält sich dessen Arbeit, dessen Archäologie-Projekt zu diesen großen Bildatlanten?

 

 

G. D-H.: Mein Relation zu Foucault ist mehr als positiv, sie ist grundlegender Natur, wobei Foucault Archive von Diskursen angelegt hat und es prinzipiell eine schwierigere Aufgabe ist, ein Archiv von Bildern anzulegen. Wenn man zum Beispiel ganz konkret mit Historikern spricht, sieht man, dass es für sie schwerer ist, Bilder zu klassifizieren als Texte. Sei es auch nur deshalb, weil man einen Text zumindest alphabetisch klassifizieren kann und es für Bilder kein Alphabet gibt. Man weiß nicht, wie man sie klassifizieren soll. Daher ist diese Frage nach dem Archiv absolut grundlegend, weil es die Form der Historizität bestimmt. Man gelangt zu keiner wahren Geschichte der Bilder, indem man einfach dem Modus einer linearen Chronik folgt, einer chronologischen Chronik – und zwar aus dem einfachen Grund, weil ein einzelnes Bild, ebenso wie eine einzelne Geste, in sich verschiedene heterogene Tempi vereint. Um den Bildern Historizität  zu verleihen – was grundlegend ist – muss man also ein Archiv schaffen.

 

Ein Bildarchiv lässt sich nicht wie eine reine und simple Erzählung organisieren, es ist fatalerweise viel komplexer. Was diese Organisation betrifft, so ist es sehr interessant zu sehen, dass im selben Zeitraum, den 1920er- bis 1930er-Jahren – einer revolutionären Zeit – Historiker oder Denker das Problem des Bildes gleichzeitig ins Zentrum ihrer Überlegungen zur Geschichte rückten und Atlanten oder Wissens-Systeme einer völlig neuen Art entwickelten: das heißt Warburg den Mnemosyne-Atlas, Benjamin das Passagen-Werk, Bataille die Documents … gefolgt von einem langen et cetera. Und exakt zum selben Zeitpunkt wird im Bereich der Künste über die Montage nachgedacht: Sergei Eisenstein, Lew Kuleschow, Bertolt Brecht, die russischen Formalisten. Es scheint mir bedeutsam, dass in einem Moment, in dem die Geschichte Europas komplett aus den Fugen gerät, Denker und Künstler die Geschichte – im Sinne von Zerstörung und Rekonstruktion – durch Montage neu entwerfen. Das kann man – ich nenne es jedenfalls so – eine Erkenntnis durch Montage nennen. Benjamin sagte, das Entscheidende an einer wahren Geschichte der Kunst ist nicht, die Geschichte der Bilder zu erzählen, sondern zum Unbewussten des Blicks, des Sehens zu gelangen. Zum Unbewussten des Blicks gelangt man nicht durch Erzählungen oder Chroniken, sondern nur durch eine interpretative Montage. Dies geschieht zum Beispiel bei der Psychoanalyse. Man erzeugt interpretative Montagen und aus der Verknüpfung von zwei sehr unterschiedlichen Dingen ergibt sich ein Drittes, das Indiz dafür ist, was wir suchen.